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Leseprobe:
Vorwort
Was ist Solarpunk? Solarpunk-Literatur stellt die Vision einer Gesellschaft vor, die all das, was derzeit unsere zivilisatorischen Errungenschaften bedroht, vermieden oder gemeistert hat:
Klimakrise und Artensterben, gruppenbezogenen Hass und skrupellosen persönlichen oder gruppenbezogenen Egoismus.
Die ökologische und friedliche Gesellschaft der Zukunft erreicht dies aber nicht durch ein Zurück zum „einfachen“ Naturleben, sondern durch die Bejahung von Technik zum richtigen Zweck, nämlich zum Wohlleben
(nicht zu verwechseln mit Wohlstand) für alle.
[Link zum Wikipedia-Artikel "Solarpunk"]
Im Unterschied zu – ebenfalls oft aus ökologischer Besorgnis motivierten – Endzeit-Szenarien traue ich solchen positiven Visionen mehr Motivationspotential zu.
Wenn Öko-Katastrophen-Filme, -Games und -Literatur ein „Happy End“ haben, ist oft nur der vollkommene Zusammenbruch abgewendet oder das Grüppchen, mit dem man mitgefiebert hat, durchgekommen.
Eine globale Verbesserung wird nicht gezeigt. Wenig motivierend. Nichts, wonach man Sehnsucht bekommen kann.
Ist das hier Solarpunk? Ich wünsche es mir. In wirklich finsteren Zeiten von Ukraine-Krieg, Nahost-Krieg, Dauerkrisen wie Sudan, Autoritarismus und Kettensägen-Liberalismus folgt dieser Text dem Motto
„Ich schreibe mir die Welt wie sie mir gefällt.“
Sicher könnten sehr viele Menschen ähnliche Ausblicke aufschreiben. Die würde ich sehr gerne lesen. Also: Schreibt, malt, baut, podcastet positive Zukunftsentwürfe!
Wenn euch das Setting dieses Textes gefällt, dann nutzt es meinetwegen weiter; baut es aus, siedelt Geschichten dort an – Liebesgeschichten, Krimis oder was auch immer –
die uns neben der Handlung das In-Zone-Lebensgefühl und die Sehnsucht danach vermitteln. Schreibt, schreibt, schreibt… Crowd-Solarpunk.
Sabine Seeliger
Februar 2025
Verliebt
August, Eu-EU-Zone, Spanien, Provinz Gipuzkoa, Wohngenossenschaft „Arrasate“
„Ich kann keinesfalls weg ziehen; ich möchte nicht mehr anders leben, meine Arbeit macht mich glücklich und ich verdiene auch noch unverschämt gut.“
„Aber doch nur Eu-Euro, oder?“
Noch bevor die Bemerkung ausgesprochen war, merkte Tom, dass er tief im Fettnapf stand. „Entschuldige, Juli, denk dir das ‚nur‘ bitte weg. Ich meine, du verdienst ausschließlich Eu-Euro, richtig?“
„Merke ich da ein gewisses Vorurteil? Aber ja, korrekt. Und ich krieg alles, absolut alles, was ich brauche, für Eu-Euro. Siehst Du ja.“
Wie schon die Tage zuvor würde Juli auch hier im Bistro für sie beide bezahlen, weil Spanien beinahe komplett in der Eu-EU-Zone war. Juli kam aus Baden-Württemberg, das ebenfalls zur Eu-EU-Zone gehörte
und konnte deshalb ohne Umtauschgebühr bezahlen. Für Tom, der aus Bayern kam und mit „herkömmlichen“ Euro bezahlte, war es hier wesentlich teurer.
Tom kam zum Ausgangspunkt zurück „Heißt also, wenn das mit uns beiden keine spanische Urlaubsaffäre bleiben soll, dann müsste ich zu dir umsiedeln… in die Eu-EU-Zone.“
„Und vom Land in eine Universitätsstadt“ wie er in Gedanken hinzufügte. Entschuldigendes Nicken von Juli.
„Kann ich mein Motorrad mitbringen?“
„Ja.“
„Kann ich ab und zu was grillen – soll heißen: Fleisch grillen?“
„Ja doch.“
„Gibt’s bei euch auch Metal-Konzerte?“
„Sag mal, du wohnst zuhause in Deutschland doch keine 100 km von der Eu-EU-Zone entfernt, oder?“ Juli zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Gab bis jetzt keine Motivation, mich mit der Zone zu beschäftigen. Hab’s beim Aufgeschnappten belassen. Also: Metal-Konzerte?“
„No, leider nein. Weil: Bei uns hängt immer so ein sphärisches Gedudel und Glöckchengebimmel in der Luft.“ flötete Juli und küsste Tom auf den Nacken unter den dunklen Wuschelhaaren.
„Lass uns mal hoch in die Gästewohnung gehen, du Schöner.“ Sie transferierte noch schnell eine Summe, die sogar über der Spanne des Angemessenen lag und sie verließen das Bistro.
Das „Tack så mycket“ der baskischen Servicekraft hörten sie schon nicht mehr.
In Toms Gästewohnung in der Wohngenossenschaft „Arrasate“ war die Tür noch nicht hinter ihnen zugefallen, als sie auf dem Weg zum Bett schon begannen sich gegenseitig die Kleidung abzustreifen
und im Vollrausch ihrer Verliebtheit übereinander herfielen. Dass Tom eigentlich seiner Ex-Freundin nach Mondragón hinterher gereist war, um sie zu überzeugen, einen Neustart ihrer Beziehung zu machen,
war von seiner Agenda verschwunden seit Juli und er sich über den Weg gelaufen und magnetisch angezogen hatten.
Juli war als Touristin unterwegs, hatte aber als überzeugte Eu-EU-Zonen-Bewohnerin das Reiseziel nicht zufällig gewählt:
Mondragón als Gründungsort der ältestesten und größten Industriekooperative, Vorbild der genossenschaftlichen Organisation aller Wirtschaftszweige,
Realutopie seit achtzig Jahren. Hier besuchte sie neben touristischen Zielen auch Betriebe. Jedoch verloren auch ihre im Voraus geplanten Besuche und Gespräche an Wichtigkeit, wenn Tom sie küsste.
Es zeichnete sich ebenfalls ab, dass sie beide die schöne Atlantikküste nicht zu sehen bekommen würden, da sie es nicht schafften – und auch nicht wollten – allzu große Entfernung zwischen sich und
Toms oder ihr Bett zu legen.
„Was kann ich noch tun, um dich in die Eu-EU-Zone zu locken?“ fragte Juli als sie matt und zufrieden umschlungen dalagen. „Ich wüsste sonst wirklich nicht wohin mit meiner ganzen Lust auf dich.“
Tom ließ gedankenverloren eine Strähne von Julis Haar um seine Finger gleiten. „Ich glaub, ich mach’s. Hier in Mondragón ist ja auch Eu-EU-Zone und das Leben fühlt sich ganz normal an.“
Juli kicherte und biss ihn zart in die Schulter „Wobei wir bisher nicht wirklich viel von der Außenwelt hier gesehen haben. Aber ich kann dir versichern, dass du im täglichen Leben nicht die
Riesenunterschiede spüren wirst, wenn wir von der Eu-EU-Zone allgemein sprechen. Ich wohne allerdings in einem Gemeinschaftswohnprojekt ähnlich diesem hier, es heißt ‚Das Habitat‘, und da ist unser Lebensstil
doch deutlich anders: ökologischer, feministischer, solidarischer. Weiß nicht, ob dir das entspricht. Ich hätte vollstes Verständnis, wenn du dir lieber eine normale Wohnung suchen willst.“
„Was eher klappt“ schlug Tom vor.
Juli strahlte ihn an „Kannst du drauf wetten, dass eins von beiden pronto klappen wird, wenn ich mich dahinter klemme.“
Tom ließ sich von Julis Begeisterung anstecken. Keine Frage, dass er in ihre Nähe ziehen wollte. Die Tatsache, dass er dann seine Eltern mit ihrem Milchviehbetrieb allein lassen würde, wäre damit auch besiegelt und das würde schwer werden..
Ankunft
September, Eu-EU-Zone, Deutschland, Baden-Württemberg, Gemeinschaftswohnprojekt „Das Habitat“, Julis Cluster
„Schalom allerseits.“
„Frieden, Bert. Setzt du dich zu uns?“ Juli nickte in Richtung des Stuhls neben sich.
„Gerne. Aber nur kurz, will gleich noch zur AG Belegung. Bin aber natürlich auch neugierig auf Tom. Also, wie ist der erste Eindruck? Kommst du klar?“
Tom schaute in das fragende Gesicht seines Gegenübers. Von Bert wusste er, dass er IT-Crack mit Schwerpunkt Cyber-Security war.
Muskulös, mit zurückgegeltem Haar wirkte er auf Tom auf den ersten Blick nicht wie der einfühlsame Typ. Wie tief sollte er ins Detail gehen, was erwarteten Bert und Juli für eine Antwort zwischen
„Alles bestens“ und „Ich komme mir vor wie auf einem fremden Planeten“? Etwas hilflos ließ er seinen Blick den Laubengang entlang schweifen, über Sitzecken, Blumenkübel,
Kinderwagen- und Rollatorenparkplätze.
Juli bemerkte sein Zögern und sprang ein „Eigentlich habe ich für Tom nach einer kleinen Wohnung in der Nähe aber außerhalb des Habitats gesucht, weil ich denke, dass ihm das eher entsprechen würde.
Jetzt hat nicht nur das Habitat eher geklappt, sondern ausgerechnet auch noch Cluster 5 – ist für die Eingewöhnung eines Carni-Flexitariers mit Verbrenner-Motorrad nicht so richtig hilfreich.“
Ein Giggeln von Juli und Bert steigerte sich zum lauten Lachen.„Oh Mann, unsere drei Js! Das ist die krassest mögliche adaptive Herausforderung – so vibe-mäßig, meine ich“.
Tom fand Berts Szene-Slang anstrengend, war sich nicht sicher, den Inhalt richtig verstanden zu haben und nickte nur.
Julis Lachen war zu einem breiten Grinsen heruntergedimmt „Ja, für beide Seiten. Jasemin, Janavi und Juliane bemühen sich ehrlich, es auch als Chance zum Toleranzüben für sich zu sehen.
Aber so weit, dass Tom ihr gemeinsames Geschirr mit Kadaver in Berührung bringen darf, geht die Toleranz nicht. Analog-Fleisch geht wohl klar, wir haben aber noch nicht geklärt,
was mit In-vitro-Fleisch und Insekten ist. Er kann aber zum Kochen jederzeit in unser Cluster kommen, nicht wahr, Bert? Schlüssel ist schon auf deiner Com?“
„Ja, Schlüssel hab ich, aber Insekten brauchen wir nicht klären.“
„Echt, die magst Du nicht?“ fragte Bert „Die sind so unwiderstehlich für mich! Die haben mich dauerhaft vom Veganer zum Insekti-Flexitarier
degradiert. Sind übrigens auch Gold wert für den Muskelaufbau. Wir wollten aber über dich reden. Zu allererst: Ich finde es mighty in-vibe, dass du ohne Zögern zu Juli umsiedelst, Chapeau!
Fiel dir die Entscheidung schwer?“
Tom war erleichtert – eine Frage, die er verstand, beinahe frei von Szene-Slang. „Nein, umziehen wollte ich sowieso. Weg vom Hof meiner Eltern.
Das ging echt nicht mehr. Die beiden kommen auch acht Jahre nach dem Enteignungsgesetz nicht drüber weg. Jeden Tag, ehrlich, jeden einzelnen Tag nur dieses Thema.
‚Seit fünf Generation von Pallhubers bewirtschaftet und bald kann sich jeder Dahergelaufene um den Hof bewerben‘ und so weiter und so weiter. Ich werde ihnen niemals begreiflich machen können,
was für eine Befreiung die Enteignung für mich ist. Echt perfekt: Soll sich jemand bewerben, der Lust auf Landwirtschaft hat – ich bin raus.“
„Yo, ein Farmer aus Bayern!“ Bert war begeistert. „Mighty diverse. Da will ich definitiv mehr drüber hören. Nur gerade sehe ich schon meine AG auf dem Weg zum Dachgarten.“
„Mir tout le monde. Kommst du Bert?“ Eine grauhaarige Frau winkte vom Ende des Laubengangs.
„Paix, Heike. Ich komme. Hasta la vista, ihr beiden“.
„Was ist das mit dieser Begrüßung?“ Tom fragte Juli, sobald Bert außer Hörweite war.
„Das ist so eine Art Spiel, das wir hier im Habitat haben. Bei Begrüßung, ‚Bitte‘, ‚Danke‘ und Verabschiedung herrscht Sprachen-Bingo. Wir versuchen, dafür alle Sprachen zu verwenden,
die Leute hier im Habitat als Muttersprache haben.“
So etwas Ähnliches hatte er sich schon zusammengereimt, Tom wollte eher einschätzen, wie wichtig es genommen wurde. „Mir kommt das affektiert vor. Muss ich da mitmachen?“
„Dem Ritual kannst du hier im Habitat nicht entkommen. Das war auch in Mondragón allseits verbreitet – hab ich vor dem Urlaub auch nicht gewusst.
Ich fand’s toll, dass ich das Spiel mit den Spanis gleich aufgreifen konnte. Hatte für mich etwas sehr Verbindendes über die Ländergrenzen hinweg.
Fügt der monetären und wirtschaftlichen Verflechtung noch eine kulturelle Verbindung hinzu. Um dich nicht dauerhaft darüber zu grämen, solltest du erwägen, es entweder als Gedächtnisspiel
zu sehen, dann legst du dir ein gewisses Repertoire zurecht und wechselst durch, oder als bloße Konvention, dann nimm deine Com zur Hilfe.
Aber – wenn du partout nicht willst, musst du nichts von alldem.“ Juli überlegte kurz und fuhr fort „Würde dich allerdings schon etwas ausschließen.
Nein, vergiss das; anders herum ist es richtig: Das Spiel mitspielen ist deine einfachste und schnellste Eintrittskarte in die Hausgemeinschaft.“
Tom hatte das deutliche Gefühl, dass er gerne einige Zeit für sich hätte, um auszuloten, ob sich diese Sicht- und Sprechweise annähernd möglich für ihn anfühlen würde.
Bisher war sein Umfeld exakt gegenteilig gewesen. Internationale Begriffe, für die es halbwegs passable deutsche gab, waren außerhalb der Zone verpönt.
Entgenderte, inklusive Sprache war in öffentlichen Gebäuden nach wie vor verboten und wer sich privat so äußerte, hatte mit wütenden bis tätlichen Reaktionen zu rechnen beziehungsweise
online mit einem kolossalen Scheißesturm.
Tom stand auf „Ich geh mal auspacken. Du brauchst nicht helfen, hast ja auch sicher noch anderes zu tun.“
Juli sah Tom nach. Alle, mit denen sie über Toms Zuzug gesprochen hatte,
hatten – wie sie selbst – vorausgesehen, dass die „Sprachfrage“ zu einer der größten Hürden gehören würde. Klar, niemand wurde hier zu etwas gezwungen und patriarchale Sprache war nicht verboten.
Zur Wahrheit gehörte aber auch, dass Leute, die auf dieser Ausdrucksweise bestanden, erstens langsam in der Minderheit waren und zweitens durchaus grimmige Blicke von den Mitgemeinten
aber nicht mit Angesprochenen ernten konnten. „Aber immerhin nicht auf die Fresse kriegen wie andersherum“ dachte Juli.
Einzug
Toms Cluster
„Das sind…“ Erik, Psychologie-Student aus Norwegen, der groß und hellblond auch aussah wie ein typischer Norweger, stockte. Er war Mitbewohner in Toms Cluster und schaute durch dessen offene Zimmertür
„… eine Menge… äh… Sachen.“
Tom stand in seinem 18 Quadratmeter großen Zimmer inmitten von halb ausgepackten Pfand-Boxen. Der Schrank in seinem Durchgang zum Shared Space war bereits voll.
Der Hängeschrank gegenüber, über der kleinen Küchenzeile, ebenfalls. Genauso Kleiderschrank und Regal im Zimmer sowie das Badezimmerschränkchen in seinem winzigen Bad.
Und es waren längst noch nicht alle seine Sachen untergebracht. Er steckte klarerweise in einer Sackgasse.
„No worries, das geht fast allen so, die ins Habitat ziehen“ Erik war angesichts Toms misslicher Lage aufreizend gut gelaunt.
„Man könnte das für Schadenfreude halten, weißt du?“ Tom tat sein Bestes, die aufkommende Genervtheit nieder zu halten.
„Oui, pardon. Es gibt eine Lösung für das Problem und die heißt Selfstorage. Im Keller. Ich schau nach, was frei ist. Lass sehen, du brauchst wohl zwei Quadratmeter, volle Höhe – hier. Buchen musst du von Deiner Com.“ Die Daten erschienen auf Toms Gerät.
„Oh, das kostet was.“ Tom fühlte sich unwohl angesichts der Tatsache, dass er noch nicht abschätzen konnte, wie viel er verdienen würde und wollte neben dem Notwendigsten keine finanziellen
Verpflichtungen eingehen.
Erik grinste schon wieder wissend. „Das ist sehr wahrscheinlich nur für kurz. Die Erfahrung zeigt, dass du ein halbes Jahr die Tür zum Selfstorage nicht aufmachst. Dann reuen dich die Eu-Euro,
die du für Dinge ausgibst, die du offensichtlich nicht brauchst, du stellst alles in den Circle ein und kündigst kurz darauf den Storage.“
Tom sah seinen Ausweg. „Gut. Wenn das so ist, dann stapel ich die Boxen hier in diese Ecke. Das sollte gehen und den Platz für das Bett trotzdem frei lassen.“
Die Betten waren in den Zimmern des Habitats standardmäßig in einem Kasten an der hohen Zimmerdecke untergebracht, um tagsüber Platz zu haben.
Zum Schlafen wurden sie per Seilzug heruntergelassen. „Die Kisten in der Ecke erhöhen meine Motivation, noch schneller zu überprüfen, was ich letztlich brauche.“
Erik schien die Erklärung einzuleuchten. Tom beglückwünschte sich, so elegant abgelehnt zu haben, ohne seine Furcht vor dem Geldausgeben zu zeigen.
Er musste nicht nur herausfinden, wie viel er verdienen konnte, sondern auch, was an den Schauergeschichten dran war, von Leuten die aus der Zone aussiedeln wollten und nicht gehen durften
bis sie ihr Eu-Euro-Wallet auf null gebracht hatten.
Aber zunächst gab es eine unmittelbare Frage, die Erik beantworten konnte. „Sag mal, wie ist das mit dem Cluster-Zusammenleben – erwartet ihr, dass ich mit euch zu Abend esse?“
Ein freudiges Lächeln machte sich auf Eriks Gesicht breit „Superb, dass du das fragst! Es wäre schon vibe, wenn du dich heute oder morgen Abend dazu setzt. Du hast die ganz große Vorzugsbehandlung bekommen,
ohne Vorstellung oder Probewohnen hier einziehen zu dürfen. Juli hat sich ins Zeug gelegt, um dich auf die Überholspur der Warteliste zu bringen. Und es hat Jasemin, Juliane und Janavi Überwindung gekostet,
unbesehen einzuwilligen. Also Pro-Tipp: Wenn du das erste Mal am Tisch sitzt, hätte ein 'Danke' an das Cluster viel Beziehungswert.“
Tom fühlte sich mit einem Mal sehr gestresst. Das alles war überhaupt nicht seins. Als Einzelkind bei seinen Eltern, die in den letzten Jahren äußerst bruddelig geworden waren,
und mit einem Freundeskreis, in dem man durch Wortkargheit am besten vermied, durch einen ungeschickten Spruch zum Opfer des Abends zu werden, war seine soziale Kompetenz klarerweise unterentwickelt
und seine Eloquenz ebenso. Auf was hatte er sich eingelassen?
Kennenlernen
Toms Cluster, nächster Tag
„Mama, bitte hilf mir einfach mit dem Backen“ Tom bereute mittlerweile, seine Mutter gefragt zu haben; der leckerste Apfelkuchen der Welt war diese Tirade nicht wert.
„Tom, du kommst von einem Hof mit Milchvieh und Hühnern und jetzt nimmst du keine Eier und keine Butter für den Kuchen? Das kann nichts werden.“
„Es hat aber keinen Zweck einen Kuchen zu backen, den später niemand hier essen will. Ich hab Margarine und Ei-Ersatz. Hilfst du mir nun oder nicht?“
„Magnifique, Tom, bin ich froh, dass ich eine Ausnahme von meiner Zuckerdiät gemacht habe für deinen Kuchen“ Nicht nur Erik, die ganze Tischrunde seiner Cluster-Mates Erik,
Jasemin, Janavi, Juliane, Abdulhamid, Sheila und deren beider Söhne Nuri und Hilmi, elf und neun Jahre, war begeistert.
Abdulhamid kam ursprünglich aus Saudi Arabien, hatte in England studiert und dort Sheila kennen gelernt. Sheila war Britin, ihr war aber anzusehen, dass sie in ihrer Ahnenreihe auch somalische Vorfahren hatte.
Janavi, Jasemin und Juliane boten in ihrem Aussehen eine interessante Abstufung: Janavi stammte aus Indien, war groß, mit leicht dunklem Teint, schwarzen glatten Haaren und dunkelbraunen Augen,
Jasemin einen halben Kopf kleiner mit glattem kastanienbraunem Haar und braun-grüner Augenfarbe und Juliane wiederum einen halben Kopf kleiner mit roten glatten Haaren und grünen Augen.
Sie betonten diese abgestufte Ähnlichkeit durch eine identische Langhaarfrisur und ähnliche, ebenfalls farblich abgestufte Kleidung.
Juliane schlug vor, dass Tom seine Mutter unbedingt einladen solle, eine der monatlichen Back-Sessions im Café zu leiten. Tom war schon drauf und dran ausweichend zu antworten, aber er hatte sich vorgenommen,
Julis Rat zu beherzigen: Offenheit, Ehrlichkeit und Ich-Botschaften. „Keine so gute Idee vielleicht. Sie ist…“ Tom suchte nach den richtigen Worten
„Also backen ohne Butter, Eier und Kuhmilch macht sie bestimmt nicht. Außerdem kann sie nicht länger als so ungefähr acht Stunden weg vom Hof.
Also jetzt jedenfalls nicht mehr, wo ich weg bin.“
Die überraschten, ungläubigen Reaktionen überschlugen sich. Niemand konnte sich vorstellen, derart angebunden zu sein.
„Die Automatisierung hat ihre Grenzen und unser Stall ist nicht der modernste. Man kann die Tiere nicht allein lassen und mein Vater schafft es nicht allein.
Besonders mein Vater nimmt es mir übel, dass ich abgehauen bin.“ Es tat gut, dieses Schuldgefühl einmal anzusprechen.
Das ehrliche Interesse der anderen – Sheilas und Abdulhamids Hände waren zu den Ohren gezuckt, um Tom im Folgenden über True Instant Voice in ihrer Muttersprache zu hören und die Nuancen richtig zu verstehen –
half ihm, seine neue Situation zu sortieren.
Den ganzen Abend keine Gefahr von betretenem Schweigen, wie Tom sich im Vorhinein ausgemalt hatte.
Beschwingt machte sich Tom spät in der Nacht auf den Weg zu Juli. Sie wohnte genau über ihm in einem gleich großen Cluster – notwendige Folge des seriellen Holzbaus, der sich als Standard durchgesetzt hatte,
dass übereinander liegende Wohneinheiten die gleichen Grundrisse besaßen. Seinem Gefühl nach war es mehr als gut gelaufen mit seinen Mitwohnenden; er konnte Juli also Entwarnung geben.
Sie hatte sich zwar nichts anmerken lassen, aber Tom wusste durch Erik ja, dass sie ihre Reputation für ihn aufs Spiel setzte.
„Ich glaube, sie halten mich schon für ein Landei,
aber für ein ganz sympathisches. Und auch ‚mighty diverse‘, weil es so ein exoti-sches Exemplar hier im Wohnprojekt noch nicht gibt. Im Ernst: vielen Dank für deine Empfehlung
,Ehrlichkeit-Offenheit-Ich-Botschaften‘. Die hat mich gut durch den Abend gebracht.“
Taktvollerweise ließ sich Juli ihre Erleichterung nicht ansehen.
Sie hatte auf heißen Kohlen gesessen und sich immer wieder von neuem überzeugt, dass es ein gutes Zeichen sein müsse, wenn Tom so lange mit seinem Cluster zusammen saß.
„Ich bin stolz auf dich. Du wirst auch deine Vorstellung im Plenum bestens meistern.“
„Was heißt denn… wah… etwa echt alle? Nicht dein Ernst. Das geht gar nicht.“
„Sweetheart, dein Cluster war das Schwierige. Plenum c’est facile; du sagst Hallo und erzählst, was du gut kannst, gerne machst oder lernen möchtest, damit wir die richtige Aufgabe
für deine verpflichtenden Gemeinschaftsarbeitsstunden für dich finden und alle einmal dein Gesicht gesehen haben. Nach heute Abend muss dich das wirklich nicht stressen.
Du bist das super-coole Landei, das auch noch blendend aussieht und – mhh – gut riecht und sich so gut anfühlt…“